von Franziska Buhre –
Women of Color, die Gitarre spielen? Gab es schon immer. Die Erzählungen weiblicher afroamerikanischer Singer-Songwriter waren noch nie so divers wie heute. Cassandra Wilson erzählt ihre Geschichte seit mehr als vierzig Jahren.
„When I first began to do collages, I had no idea that I was going to develop such symbols that went through my work – like the train, the serpent, the guitar (…). I use the train because so many lives of the black people had to do with the train. And this is what I tried to do with my collages, to bring the Afro-American experience into art and give it a universal dimension.“
Der afroamerikanische Künstler Romare Bearden (1911 – 1988) benennt in einem Interview aus den 1960er Jahren zentrale Motive seiner Kunst, die seine Kindheit und Jugend in Charlotte, im US-amerikanischen Bundesstaat North Carolina, prägten. Geleise, Bahnhöfe und Züge sind Bedeutungsträger in afroamerikanischen Narrativen von Flucht aus der Versklavung, Arbeitsmigration infolge der Great Depression, Aufbruch aus von Segregation bestimmten Lebensverhältnissen und für die Zuversicht im Glauben an die Befreiung von Leiden in ferner Zukunft.
Kein anderes Instrument vereint das Versprechen der Moderne auf selbstbestimmte Fortbewegung, Überwindung gesellschaftlicher Schranken und die Überschreitung musikalischer Genres so sehr auf sich wie die Gitarre. Gleichzeitig vermochte die US-amerikanische Plattenindustrie mit keinem anderen Instrument so wirkmächtige Stereotype afroamerikanischen Gospels und Blues zu erzeugen und zu bedienen, wie mit der Gitarre in Händen von African Americans.
Im gleichen Zeitraum, als Bearden beginnt, seine Erfahrungen künstlerisch in Collagen zu transformieren, wird die Gitarristin Rosetta Tharpe (1915 – 1973) für ein Konzert nach England eingeladen. Schauplatz ihres Auftritts ist eine aufgelassene Bahnstation in der Nähe von Manchester, das britische Fernsehen filmt mit. Ihre Zuhörer_innen, junge britische Mods, sitzen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig auf einer Tribüne, ein Gleis zwischen sich und der Performerin. Kein Zufall, denn in diesem Setting sieht der gemeine weiße, europäische Enthusiast eine Ikone afroamerikanischer Musik ,authentisch’ repräsentiert. Was bleibt Rosetta Tharpe anderes übrig, als über dieses britische Reenactment der Rassentrennung, ausgerechnet im Jahr ihrer Abschaffung in den USA 1964, hinwegzusehen. Sie greift zur elektrischen Gitarre und schleudert den Youngsters einen ihrer Signatur-Songs vor die Füße, den Gospel „Didn’t It Rain“.
Das essentialisierende Label ,Gospelsängerin’ hat viele Jahre verhindert, Tharpe als Wegbereiterin des Rock’n’Roll anzuerkennen, sie als Singer-Songwriter und Vorbild für Musiker wie Chuck Berry und Elvis Presley zu würdigen. Bis heute sind die Auswirkungen solch stereotypisierter Zuschreibungen spürbar, etwa dann, wenn sich in Aufzählungen US-amerikanischer Singer-Songwriter keine African Americans finden oder geneigten Musikkonsument_innen partout keine afroamerikanischen Rockgitarristinnen einfallen wollen.
Während der Zug die reisende Predigerin Katie Bell Nubin und ihre sechsjährige Tochter Rosetta (die spätere Rosetta Tharpe) 1921 aus Cotton Plant in Arkansas nach Chicago bringt, besteigt ihn Herman Fowlkes, Jr. (1918—1993) im Jahr 1948 in entgegengesetzter Richtung, von Chicago nach Jackson, Mississippi. Er kennt die Südstaaten von früheren Tourneen in einer Band der U. S. Army. Fowlkes spielt Trompete und beginnt ein Studium am Jackson State College, einer bereits 1877 gegründeten Universität für Afroamerikaner, die seit 1882 in Jackson ansässig ist. Er spielt Gitarre und ab 1952, als einer der ersten Musiker in Mississippi, E-Bass. Fowlkes tritt mit lokalen Rhythm and Blues Bands auf, mit Sonny Boy Williamson spielt er Aufnahmen ein, ebenso mit dem Sänger Lloyd Price aus New Orleans. Er begleitet Sam Cooke und den Gitarristen Gatemouth Brown bei Shows in Jackson und Umgebung. Mit der Lehrerin Mary McDaniel, die eine Doktortitel in Pädagogik hat, gründet Fowlkes eine Familie. Die beiden bekommen zwei Söhne und eine Tochter: Cassandra Marie Fowlkes wird im Dezember 1955 geboren. Ihr gibt Fowlkes seine Liebe zu Jazz weiter, Blues wird zuhause aber nicht gespielt.
Cassandra lernt im Alter von sechs Jahren Klavier und schließlich Klarinette, die sie auch in der Marching Band ihrer Schule spielt. Eine ihrer Freundinnen, Rhonda Richmond, spielt Posaune. Als Cassandra ihren Vater mit neun bittet, ihr Gitarre beizubringen, lehnt er ab und gibt ihr stattdessen ein Lehrbuch. Sie interessiert sich für die Musik von Bob Dylan, Joni Mitchell und Judy Collins, sie schreibt Folk Songs und trägt sie mit der Gitarre auf Schulveranstaltungen vor. In Jackson herrscht die Rassentrennung noch Jahre nach dem Civil Rights Act von 1964. Es gibt getrennte Schulen, öffentliche Brunnen und Wartehallen für Weiße und Schwarze. Cassandra ist 15, als die Rassentrennung in Schulen aufgehoben wird.
An der High School gründet sie ein Trio mit zwei weißen Mitschülern. Danach studiert sie an der Jackson State University Massenkommunikation und gründet ein Quartett namens „Past, Present and Future“ mit Rhonda Richmond, die jetzt Geige spielt, Yvonne “Niecie” Evers spielt Congas und Nellie “Mack” McInnis Bass. Sie selbst spielt Gitarre und singt. Cassandra wird Mitglied in der Alpha Kappa Alpha Sorority, der ersten Studentenverbindung für afroamerikanische Frauen, die 1908 ins Leben gerufen wurde und inzwischen ein weltweites Netzwerk unterhält. Richmond und Wilson werden von John Reese gefördert, dem Gründer der Black Arts Music Society in Jackson und passionierter Veranstalter. Er verhilft ihnen zu Auftrittsmöglichkeiten.
In einem Interview mit der Jackson Free Press sagte Wilson 2012 über die Offenheit der Musikszene in ihrer Heimatstadt: „Because it’s the crossroads of the South, you hear all kinds of music here. It’s not in (a Jackson musician’s) psyche to delineate so much between the types of music.“ Anlass des Interviews war die Eröffnung des Yellow Scarf, einem „Listening room where real musicians make real music in real time“, welchen Wilson gemeinsam mit Rhonda Richmond in Jackson betreibt. Die beiden engagieren sich für die lokale Musikszene und sorgen für Begegnungen älterer mit jungen Musiker_innen. Auch die Künstler_innen, deren Alben Richmond und Wilson mit ihrer unabhängigen Plattform Ojah Media Group seit 2000 produzieren, sind im Yellow Scarf regelmäßig zu Gast, unter anderen die Singer-Songwriterin Lili Añel.

Black Sun: Cassandra Wilson im März 2014 mit Harriet Tubman live @ BRIC House, Brooklyn (Foto: screenshot)
Den Titelsong ihres Albums „She Who Weeps“ (1991) schrieb Wilsons Mutter, ihr Vater spielt in der Aufnahme den E-Bass, Jean-Paul Bourelly Gitarre und Wilson singt. Auf dem Album „Belly Of The Sun“ (2002) singt auch Rhonda Richmond und spielt Klavier, in einem eigenen Song spielt Wilson Gitarre, wie auch auf ihren ersten beiden Alben aus den 1980er Jahren. „She Who Weeps“ hat sie in einer Bahnstation in Clarksdale, Mississippi aufgenommen, die aufgelassen und zum Gemeindezentrum umfunktioniert worden war. Weil der Raum am letzten Tag für eine Hochzeitsfeier gebucht war, zog die gesamte Crew für die Aufnahmen in einen Güterwagen um. Es ist ein fundamentaler Unterschied, wenn jemand selbst entscheidet, auf einem Bahnhof der Stadt, in welcher Muddy Waters aufwuchs, Geschichten von Abschied und Ankunft, Erbe und Fernweh zu erzählen. Rosetta Tharpe hatte 1964 nicht die Wahl.
Wilson hat Songs aufgenommen von Boyce und Hart, Charles Brown, Willie Dixon, Bob Dylan, Son House, Robert Johnson, Angélique Kidjo, Cindi Lauper, Mississippi Fred McDowell, Joni Mitchell, Van Morrison, Willie Nelson, Muddy Waters, Hank Williams, Neil Young – um nur einige der Blues-Musiker und Singer-Songwriter zu nennen, die in ihrem Werk präsent sind. Seit über 20 Jahren arbeitet sie mit dem kanadischen Gitarristen Kevin Breit, zuletzt auf „Coming Forth by Day“ (2015).
Noch länger vertraut ist sie mit dem Gitarristen Brandon Ross, der auf vielen ihrer Alben zu hören ist. Er gründet 1998 das electric power trio Harriet Tubman mit dem Bassisten Melvin Gibbs und dem Schlagzeuger J.T. Lewis. 2013 fragt er Cassandra Wilson, ob sie mit Harriet Tubman auftreten möchte, unter einer Bedingung: Sie soll auch Gitarre spielen. Seitdem performt das Vierer-Kollektiv live, um afroamerikanische Narrative ihrer Vorfahren ins Gedächtnis zu rufen und mit jedem Konzert fortzuschreiben. Cassandra Wilson sagte zum Anliegen der Band 2013: „The music is really our only remembrance. We can’t go to a family tree and say, ‚My great-great-grandfather came from blank, and he was a blank. We can’t fill in the blanks. The only thing we have is the music.“
Cassandra Wilson ist Mitglied in der Black Rock Coalition, einer Non-Profit-Organisation mit dem Zielen, die afroamerikanischen Wurzeln weißer Rockmusik geltend zu machen, rassistische Stereotype zu bekämpfen und gegenwärtige Innovationen afroamerikanischer Rockmusik selbstbestimmt zu etablieren. Ebenso Mitglied ist die gefragte Singer-Songwriterin Toshi Reagon, die u.a. mit Lizz Wright, Me’shell NdegéOcello und Elvis Costello arbeitete.
Eine jüngere Vertreterin der Black Rock Coalition ist die Gitarristin und Sängerin Kamara Thomas aus Chicago, die ihre Musik als ,Interstellar Americana’ bezeichnet und nach Stationen in Virginia und New York inzwischen in North Carolina lebt.
Stetig nach oben weist die Karriere von Valerie June, die 1982 in Jackson, Tennessee geboren wurde, inzwischen in Memphis lebt und ihrem Tun den Namen ,Organic Moonshine Roots Music’ gegeben hat. Ihre erste Gitarre bekam sie von ihrem Großvater und brachte sich das Spielen selbst bei. June schrieb den Titelsong des neuesten Albums der Sängerin Mavis Staples (High Note, 2016) und spielte Ende März beim New York Guitar Festival ein Tribute an Rosetta Tharpe.
Harriet Tubman und Cassandra Wilson nahmen sich übrigens vor, für jede Stadt, in der sie spielen, einen Song zu schreiben. Moers erscheint dann hoffentlich auch auf ihrer musikalischen Landkarte.
(Beitragsbild: Cassandra Wilson @ Moers Festival 1986, Eissporthalle Moers, Foto: Hyou Vielz)