von Stefan Hentz –
Es gibt dieses unglaubliche Gefühl, das allem anderen zugrunde liegt. In einem Orchester sitzen, inmitten einer größeren Gruppe von Gleichgesinnten, in einem Saxofon- oder Trompetensatz vielleicht, umfasst von Klang, von dieser Vibration, die sich in den verschiedenen Resonanzräumen des Körpers einnistet, im Bauch und in der Brust, im Schädel, an seiner Basis, in den Ohren und den Nasennebenhöhlen. Und plötzlich geht alles ganz leicht, die eigene Instrumentalstimme verbindet sich mit denjenigen um sie herum zu einem Gesamtklang, der so massiv ist, dass er einen mitreißt in ganz besondere Bewusstseinsformen, die sich wiederum in den Reaktionen des Publikums spiegeln. Dieses große Gefühl scheint Sucht auslösend zu wirken, jedenfalls zieht es seit jeher auch viele improvisierende und Jazzmusiker, von denen man denken könnte, dass sie sich eigentlich von den engen Vorgaben, die das Spiel in einem großen Ensemble zumeist begleiten, gegängelt fühlen, in diese musikalischen Supertanker. Aber nein, musikalische Berührungsangst ist nicht der Stoff, der experimentierfreudige Musiker ausmacht.
Das spürbar verstärkte Interesse am großen Format hat eine Wurzel in der mittlerweile nahezu flächendeckenden, akademischen Ausbildung von Musikern, auch im Bereich der improvisierten Musik. Nahezu jeder Musiker, der sich in den letzten Dekaden auf der professionellen Szene etablierte, hat sich während seiner Ausbildung nicht nur mit Jazz und der Kunst der Improvisation, sondern auch mit der europäischen komponierten Kunstmusik und ihrem weiten Spektrum an Orchesterklängen beschäftigt. Dazu befassen sich die Studenten in den Hochschul-Bigbands der Jazzstudiengänge so konzentriert wie nirgends sonst mit den technischen Anforderungen an professionelle Jazzmusiker, mit der Präzision von Intonation und Phrasierung, mit dem Klang ihrer eigenen Stimme im Zusammenspiel mit anderen, mit einem ganzen Instrumentalsatz, dem Orchester. Jazzmusikalische Sekundärtugenden, doch immerhin Tugenden.
Doch im Großen und Ganzen ist die Bigband-Landschaft in Europa von einer seit Jahrzehnten zwar stetig schrumpfenden Zahl von gut ausgestatteten Radio Bigbands geprägt, die gleich mehrere Funktionen erfüllen. Einerseits pflegen sie – ähnlich wie die Hochschul-Bigbands – das Repertoire und sorgen dafür, dass die historischen Ausformungen des swingenden Bigbandjazz nicht in Vergessenheit geraten, zum zweiten stellen sie aufwändige Produktionen mit den Stars des Genres als Gastsolisten oder auch -arrangeuren und -dirigenten ins Schaufenster, damit ihre Arbeit auch überregional und jenseits der Insiderkreise wahrgenommen werden, was wiederum hilft, gegenüber Senderhierarchen und Kassenprüfern ihren Unterhalt zu legitimieren. Schließlich jedoch – und das ist wahrscheinlich ihre wichtigste Funktion – bieten sie jüngeren Arrangeuren und Komponisten die Gelegenheit, eigene, frische und auch die Konventionen des Genres überschreitende Ideen mit einem erstklassigen, professionellen Klangkörper zu erproben. Darin liegt ihr wichtigster Beitrag dazu, das Format Bigband in die Gegenwart zu transportieren.
Jenseits der Institutionen ist die dauerhafte Existenzsicherung einer Bigband seit langem nur noch wenigen Musikern möglich. In den USA sind Orchesterleiter wie Maria Schneider, die sich als Assistentin von Gil Evans in das Handwerk des orchestralen Farbenmischens einführen ließ und jahrelang einmal in der Woche mit ihrem Orchester in einem kleinen Club in Greenwich Village spielte oder Darcy James Argue, dem es gelingt, seine 18köpfige „Secret Society“ am Leben zu halten, leuchtende Ausnahmen. Der Saxofonist Geir Lysne mit seinem „Listening Ensemble“in Norwegen, das Andromeda Mega Express Orchestra in Berlin, die „Nouvelle Cuisine Big Band“ in Wien, die derzeit Kompositionen ein neues Klanggesicht gibt, mit denen Michael Mantler und das Jazz Composer’s Orchestra die Jazz-Avantgarde vor einem halben Jahrhundert mit einem orchestralen Klang bereicherte.
Angesichts der verringerten Strahlkraft der stilistisch eindeutigen überlieferten Spielformen zwischen traditionellem Swing und der großen Befreiung beispielsweise in Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra beschäftigen sich improvisationsaffine Musiker im orchestralen Kontext heute mit den gleichen Themengebieten, die sie auch mit kleineren Ensembles behandeln. Die enorme Palette von Möglichkeiten bietet sich dafür an, weiterhin nach neuen Farbkonstellationen zu suchen, die überlieferten Instrumentalgruppen aufzubrechen, die Sätze in Richtung Dissonanz aufzufächern oder sie mit ungewohnten Klängen zu erweitern, in archaischen oder elektronischen Klangwelten zu wildern. Das enorme spieltechnische Niveau, für das die akademische Ausbildung der Musiker sorgt, ermöglicht es gleichzeitig, die Gravitationsgesetze der herkömmlichen Harmonielehre zugunsten serieller Strukturen über Bord zu werfen oder durch raffinierte Konstruktionen auf der Basis mikrotonaler Zwischentöne einem Zerreißtest zu unterziehen.
Auf der Basis dieser erweiterten klanglichen Kompetenz versuchen sich aktuelle Bigband-Arrangeure auch auf der Ebene der Materialfindung daran, die Schluchten zu überbrücken, die Jazz und verwandte improvisierte Bigband-Musik von anderen anderen Sparten trennt, strikt binäre Pop-, Rock-, Elektro-Beats gehören ebenso zum festen Inventar, wie die ungerade zusammen gesetzte Takte oder die kaum auszuzählende Agogik von folkloristischen Tänzen und Reigen, die in ihrer vielfältigen Ausprägung von den verschiedenen Kontinenten auch in die melodische Gestalt der aktuellen, orchestralen Produktionen im bereich der improvisierten Musik eingehen. Die große Emphase dagegen, das Prinzip Ekstase scheint außer Kraft gesetzt, gebändigt in einem Hexenkessel von Formen und Strukturen, die sich immer wieder zu neuen, musikalischen Räumen zusammen setzen, die den Ausdruckswillen improvisierender Musiker immer wieder neu befeuern und dabei gleichzeitig immer wieder das überwältigende Gefühl, Teil eines Klangkörpers zu sein, neu erzeugen.
(Beitragsbild: Luzern Jazz Orchestra von Lukas Frei)