von Stefan Hentz –
Im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung ist der Jazz längst in die Sphäre der angesehenen Kunstsparten aufgerückt ist. Ein Quantensprung?
Es ist eine dieser Veränderungen, die zunächst niemand bemerkt, wie das bei tektonischen Verschiebungen eben so ist. Als der Bundesaußenminister im Frühjahr eine Reise nach Südamerika plante, da klopfte Frank Walter Steinmeiers Auswärtiges Amt auch bei der Berliner Pianistin Julia Hülsmann an, ob sie nicht als Teil der begleitenden Kulturdelegation (neben der seit jeher üblichen Wirtschaftsdelegation) an dieser Reise teilnehmen möchte. Julia Hülsmann flog mit. Ein kleiner Schritt.
Schon in seiner ersten Amtszeit zwischen 2005 und 2009 hatte Frank Walter Steinmeier auf seinen Dienstreisen als Außenminister den üblichen Begleittross aus Wirtschaftsvertretern um eine Delegation aus dem Kulturbereich ergänzt. Als Steinmeier nach der letzten Bundestagswahl seinen Posten wieder bezog, griff er auch diese Idee wieder auf. Neben institutionell eingebundenen Persönlichkeiten, bspw. Vertretern des Goethe-Instituts, Museums- oder Theaterleitern, usw. gehören der sechs- bis achtköpfigen Kulturdelegation auch immer Künstler an, die nur für sich selbst und ihren individuellen künstlerischen Standpunkt stehen.
Steinmeier folgt mit der Einbeziehung von Vertretern der Kulturszene seiner Grundüberzeugung, die er in diversen Reden als Grundlage seiner Außenpolitik darstellte: In einer Welt, die nach dem Zusammenbruch der Blockkonfrontation auf der Suche nach neuen Werkzeugen ist, seien Dialog und Verständigungsprozesse die Grundvoraussetzung für die „Arbeit an der Weltvernunft“, wie er in der Folge von Willy Brandt die Aufgabe deutscher Außenpolitik definiert.
Steinmeier bemüht dafür ein Bild, das er von dem Lyriker Rajivinder Singh, einem der Teilnehmer einer solchen Kulturdelegation übernahm: die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik solle das Sechs-Augen Prinzip zur Maxime machen. Wir sollten einander immer zugleich mit den eigenen Augen, mit den Augen des Anderen und aus einer gemeinsamen Perspektive betrachten, um den Prozess von Verstehen, Verständnis und Verständigung überhaupt erst in Gang setzen zu können. Der eigene Blick: das beinhaltet, dass wir eigene Positionen offen und selbstbewusst erklären können müssen. Der Blick des Anderen: das ist der Versuch, mit den Augen des Anderen die Welt zu sehen. Der gemeinsame Blick: in dem aus diesen vier Augen eine möglichst gemeinsame Perspektive wird. Für derartige Perspektiverweiterungen sind Künstler die Profis.
Im Grunde entspricht Rajinder Singhs Sechs-Augen-Prinzip der Funktionsweise gelingender Improvisation, und schon deshalb scheint es naheliegend, dass Steinmeiers Ministerium Julia Hülsmann, Jazzmusikerin und Pianistin, als Repräsentantin des ganzen Bereichs Musik einlud. Als UDJ-Vorsitzende war Hülsmann zwei Jahre lang das Gesicht der Wiederbelebung der Jazzmusikergewerkschaft UDJ, und spätestens in ihrem Jahr als „Improviser in Residence“ der Stadt Moers hat sie genug Erfahrung in Sachen Kommunikation und Vermittlung über die engen Zirkel der Jazz-Aficionados hinaus gesammelt.
Auf der Reise im Tross des Außenministers konnte sie beobachten, wie nach und nach die Distanz zwischen Kultur- und Wirtschaftsdelegierten dahin schmolz. Ganz besonders deutlich wurde das in den gegensätzlichen Reaktionen, die sie mit kleinen Privatvorstellungen erntete. Als sie mit zusammen mit Jürgen Boos, dem Chef der Frankfurter Buchmesse, spontan einige Gedichte von Francois Villon vertonte, stöhnten die Wirtschaftsvertreter auf: Gesellschaftskritik oder sonstwie Bedrohliches hörten sie in den Zeilen des französischen Barockdichters und in den (Dis-)Harmonien des Klaviers. Als Hülsmann gegen Ende der Reise in einer Hotelbar einen kleinen Solo-Set am Klavier improvisierte, waren ihre Reisebegleiter ganz erleichtert: Das ist also dieser Jazz – muss gar nicht weh tun.
Natürlich sind solche Annäherungsprozesse keine Einbahnstraße, sie helfen auch eigene Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. Die Pianistin beobachtete, wie sie Verständnis für manche der Wirtschaftsvertreter entwickelte. Kontakte werden jedenfalls bestehen bleiben. Aus Julia Hülsmanns Sicht bedeutet dies, dass zu tun, was die Vertreter der hochsubventionierten Museums-, Theater- und Orchesterkultur schon immer tun: mit den Shakers und Movers unserer Gesellschaft in Kontakt zu treten.
Es scheint so, als wäre der Jazz auch in Deutschland dabei, das Schmuddelkinderstadium hinter sich zu lassen und institutionelle Formen der Anerkennung zu erfahren. Das Radar der medialen Wahrnehmung, das auf die ganz großen Themen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fixiert ist, hat von diesen Veränderungen noch nichts bemerkt. Doch im Weinberg der Realität rückt der Kern des Politischen in den Vordergrund. Interessenvertretung, politisches Handeln, die Mühen der Ebene: Fortschritt im Schneckentempo.
(Quelle Beitragsbild: Luftwaffe/Ingo Tesche)