von Franziska Buhre –
Bei Heißhunger versagen bekanntlich sämtliche persönlichen Ansprüche an gesunde Ernährung, fair und nachhaltig produzierte Lebensmittel, angemessene Arbeitsbedingungen der Menschen hinterm Verkaufstresen des Imbisses, der wahllos angesteuert wird. Hauptsache, das Loch im Magen wird gefüllt, und zwar schnell. Eine internationale Fastfood-Kette serviert die fleischgewordene Ersatzbefriedigung zwischen zwei aufgedunsenen Baguette-Scheiben als Sub. Ein Submarine, kurz Sub, sprich Sandwich, wird im Firmenschriftzug symbolisch von zwei Pfeilen nach außen geschickt – optisches Signal für den Mahlzeit-Ersatz im Vorbeigehen, unverbindlich, vorgefertigt, Konsens für eine Gruppe Hungriger mit verschiedenen Vorlieben.
Subs (Abkürzung für Substitutes = Ersatzspieler) bilden den Schmierstoff arrivierter Bigbands im laufenden Konzertbetrieb. Sie ersetzen Musiker_innen der Stammbesetzung und werden für noch schlechter bezahlte und weniger publikumsträchtige Gigs angeheuert. Das Publikum erlebt auf diese Weise eine Mischung aus jungen und älteren Musiker_innen, die für Abwechslung sorgt. Als junger, dienstbeflissener Sub lässt sich in Köln eine bescheidene Existenz bestreiten, denn manche Bigbands in der Stadt besetzen bisweilen ganze Instrumentengruppen mit Subs. Im April 2013 hat der Posaunist Janning Trumann es satt, inmitten von Musikern zu spielen, von denen über die Hälfte Subs sind. Seine Idee zur Gründung einer eigenen Bigband stößt bei seinem Instrumentalkollegen Tobias Wember und bei den Saxofonisten Jens Böckamp und Johannes Ludwig auf offene Ohren. Und weil sich nahezu alle Subs untereinander kennen, wächst die Besetzung in Windeseile zu einer 18-köpfigen Bigband an, ein Spielort findet sich kurz darauf und gibt dem großen Ensemble seinen Namen: Subway Jazz Orchestra.
„Wir wollten selber das Ruder in der Hand haben und entscheiden, welche Musik wir spielen und mit wem,“ erzählt Trumann im Gespräch. „Wir haben so viele Komponisten mit eigenem Material in der Band. Dafür brauchten wir ein eigenes Format.“
Der Wille zur Musikpraxis im Zeichen der Selbstermächtigung zeigt, dass die Aufführungspraxis des Bigband-Jazz traditioneller Prägung in die Jahre gekommen ist. Die Klassiker US-amerikanischer Bigband-Literatur aus den späten 1930er bis 1970er Jahren stehen seit Ewigkeiten auf den Programmen namhafter Bands. Deren militärisch anmutende Konzertroutine treibt auch zeitgenössischen Auftragswerken oftmals jede Spontaneität aus. Die Institution Bigband und ihre Maßgaben an Hierarchie und althergebrachte Abläufe sind für junge Musiker, wie sie im Subway Jazz Orchestra versammelt sind, nicht erstrebenswert, im Gegenteil: sie begreifen sich als Kollektiv. Weshalb sie auch bewusst den Begriff Orchestra für sich gewählt haben, denn unter diesem Dach eröffnen sich mehr stilistische und kompositorische Freiheiten und variable Besetzungen. „Wir schreiben Programme, die mit neuen rhythmischen und harmonischen Parametern arbeiten. Unsere Generation ist mit Rock- und Popmusik groß geworden, unser Selbstverständnis ist breiter gefächert,“ sagt Janning Trumann. „Unser Sound hat wenig mit Swing zu tun, es geht vielmehr darum, aufeinander zu hören und einzugehen. Wir interpretieren Musik, die heute entsteht.“
Historische Parallelen
Mit der Entscheidung für ein eigenes Repertoire und eine verlässliche Spielstätte knüpft das Subway Jazz Orchestra interessanterweise an historische Entwicklungen des Musiklebens an. Spätestens nach dem ersten Weltkrieg beschäftigten sämtliche Vergnügungsstätten und Hotels eigene Hauskapellen, in Kinos spielten „Lichtspielorchester“. Heute gibt es in Deutschland ähnliche Allianzen zwischen Spielstätten und Bigbands, die ihnen ein junges, hungriges Publikum beschert und für die Kontinuität der musikalischen Arbeit ein wirkungsvolles und nachhaltiges Modell bietet.
In Hannover spielt die Bigband Fette Hupe unter Leitung von Jörn Marcussen-Wulff und Timo Warnecke seit 2010 im Kulturzentrum Faust. Von ihrem herausragenden Engagement profitieren inzwischen Schüler_innen an Schulen in ganz Niedersachsen. In Leipzig tritt die Spielvereinigung Sued seit 2008 im soziokulturellen Zentrum naTo auf. Die Konzerte mit Gästen wie Nils Wogram, Monika Roscher, Niels Klein oder Anna Webber führen sie auch regelmäßig nach Dresden und Berlin. In der Hauptstadt hat das 2011 gegründete Omniversal Earkestra seit einigen Monaten im Ballhaus Berlin eine neue Heimstatt für seine wöchentlichen Konzerte gefunden.
Frappant ist die historische Parallele auch, was die selbstgesetzten Anforderungen des Subway Jazz Orchestra an ein eigenes Repertoire angeht. So beklagte der französische Komponist und Jazz-Enthusiast Darius Milhaud bereits 1923 in seinem Essay „L’Évolution du jazz-band et la musique des n** d’Amérique du nord“, das Jazz-Orchestern ein „regelrechtes“, sprich eigenes, Repertoire fehle. In Abgrenzung zur Jazz-Band, die ausschließlich Tanzmusik spiele, kritisierte Milhaud die Praxis, berühmte Orchesterstücke für das Jazz-Orchester zu transkribieren, anstatt für die, seinem Verständnis nach, Idealbesetzung aus Flöte, Klarinette, Posaune, Saxofon, Schlagzeug, zwei Trompeten, Klavier, zwei Violinen und Kontrabass, Originalkompositionen zu schreiben.
Grenzenlose Vielfalt
Das Subway Jazz Orchestra ist Teil einer Entwicklung, die in ganz Deutschland während der letzten zehn Jahre einen enormen Aufschwung genommen hat. Unter dem Dach eines Orchestra ist die Vielfalt an Besetzungen und Stilistiken grenzenlos. Seit 2007 spielt das Skazka Orchestra mit Akkordeon, Gesang, Posaune, Trompete, Saxofon, Gitarre und Kontrabass eine Mischung aus russischem Folk, Ska, Balkanmusik und Jazz. 2010 gründete Malte Schiller sein 11-köpfiges Ensemble Red Balloon, um seinen Kompositionen im Geist des Third Stream Ausdruck zu verleihen. Der Gitarrist Moritz Sembritzki komponiert seit 2009 für sein Magnetic Ghost Orchestra aus vier Saxofonisten, je zwei Trompetern, Posaunisten, Schlagzeugern und Gesangsstimmen plus Sousaphon, Bass und Tasteninstrumente Stücke, die sich zu einer traumwandlerischen Rockoper verbinden. Das Christian Elsässer Jazz Orchestra in München und die Tobias Becker Bigband in Stuttgart setzen seit 2010 auf zeitgenössische Eigenkompositionen nach Vorbild des klassischen Bigband-Idioms. Die 18 Musiker_innen des Andromeda Mega Express Orchestra, besetzt mit Flöten, Tenorsaxofonen, Fagott, Trompeten, Vibraphon, Harfe, Streichquintett, Rhythm Section und Gitarre, feiern unter Leitung von Daniel Glatzel in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Der Pianist Nicolai Thärichen hat das gitarrenlose Hendrixperience gegründet, um die Musik von Jimi Hendrix mit Gesang, Klarinetten, Baritonsaxofon, Vibraphon, Cello und Rhythm Section zu erkunden. Das Album erscheint im Sommer.
Und was ist mit Musikerinnen?
Nur in wenigen der genannten Bigbands gehören Musikerinnen der Stammbesetzung. In der Bigband von Tobias Becker spielt Judith Goldbach Kontrabass, im Bundesjazzorchester ist die Posaunistin Liza Pflaum die einzige Instrumentalistin. Im Subway Jazz Orchestra spielen mitunter die Bassistin Hendrika Entzian und die Saxofonistin Theresia Philipp. 2015 war die Komponistin, Gitarristin und Sängerin Monika Roscher mit einem eigens komponierten Programm zu Gast. Ihr zweites Album mit ihrer eigenen Bigband erscheint im April.
Woran liegt die mangelnde Präsenz von Musikerinnen in zeitgenössischen Bigbands? „Das hängt damit zusammen, wie ausgebildet wird,“ meint Janning Trumann. „An der Hochschule in Köln haben wir derzeit keine Posaunistin, Bassistin oder Schlagzeugerin.“ Während Saxofonistinnen an nahezu jeder Hochschule in Deutschland präsent sind, beanspruchen junge Frauen noch seltener Blechbläser und Instrumente der Rhythm Section für sich. Unter anderem an den Hochschulen in Leipzig und Berlin werden derzeit Posaunistinnen und Bassistinnen ausgebildet, in Weimar studieren mehrere Trompeterinnen. Mareike Wiening, die heute in New York City lebt, hat in Mannheim und Kopenhagen Schlagzeug studiert, Imogen Gleichauf in Weimar und Eva Klesse in Leipzig, Weimar und Paris.
Mädchen sind im Bereich der Jugendausbildung mit Geschlechterstereotypen konfrontiert, welche ihnen die Entscheidung für ein Instrument und ein mögliches Jazzstudium im Anschluss erschweren. Ilka Siedenburg, Professorin für Populäre Musik und ihre Didaktik an der Universität Münster, hat 2015 in einer Pilotstudie musikbezogenen Geschlechterkonstruktionen in schulischen Bigband-Klassen in Nordrhein-Westfalen untersucht (Schüler_innen der 6. Klassen). Ihr zufolge ist die Instrumentenwahl geschlechtstypisch geprägt: Mädchen spielen am häufigsten Saxofon und Klarinette, die wenigsten entscheiden sich für Bass und Blechblasinstrumente, wobei letztere unter Jungen und Mädchen gleichermaßen unbeliebt sind. Mädchen improvisieren etwas lieber als Jungen, sie präsentieren sich auch genauso gerne vor Publikum und möchten häufiger als Jungen weiterhin den Unterricht wahrnehmen. Die großen Defizite der Ausbildung liegen in fehlenden weiblichen Vorbildern unter den Lehrkräften und mangelnder Gendersensibilität in der Beratung zur Instrumentenwahl, wenn etwa ein Lehrer von „typischen Jungeninstrumenten“ spricht.
Es gibt aber, und das ist die gute Nachricht, große Ensembles die von Frauen gegründet wurden. Neben Monika Roscher in München leitet Caroline Thon in Köln seit 2009 ihr Thoneline Orchestra, in welchem auch Musiker des Subway Jazz Orchestra vertreten sind. Ein Jahr später gründete Hazel Leach das Composer’s Orchestra Berlin, das Stücke aller seiner Mitglieder aufführt. Das Wabi-Sabi Orchestra von Laura Winkler spielt seit 2012 Kompositionen der Sängerin. Zwei große Ensembles von Frauen befassen sich in Berlin dezidiert mit improvisatorischen Verfahren: Die Saxofonistin Anna Kaluza gründete das 25-köpfige Berlin Improvisers Orchestra, um nach der „Conduction“ von Butch Morris Improvisationen als Live-Kompositionen aufzuführen. Das Berlin Soundpainting Orchestra von Hada Benedito wendet im Kreis von 14 Musiker_innen ein ähnliches Verfahren der Live-Komposition nach dem Gestensystem von Walter Thompson an. Viele der Musiker_innen dieser Ensembles sind in der Echtzeitmusikszene tätig, in welcher Frauen allgemein offener begegnet wird als im Jazz. Sieben Echtzeitmusiker_innen stellen seit diesem Jahr im Easter Island Ecstatic Orchestra des Bassisten Jonathan Nagel unter Beweis, dass „Improvised Dance Music“ ein großes Vergnügen sein kann.

Michael Mantler „Jazz Composers Orchestra Update“ – moers festival 2015 (Foto: Elisa & Patrick Essex)
Kollektive Improvisation mit den Jüngsten
Was die improvisierte Musik im Kontext der Nachwuchsförderung betrifft, bestätigt die aktuelle Jazzstudie leider das gängige Vorurteil, diese Musikpraxis bedürfe vieler Vorkenntnisse. Zur „Stilistik des Unterrichts“ von Jazzmusiker_innen für jüngere Generationen ist darin zu lesen: „Es wird deutlich, dass Jazz als Elementar- oder gar Erstunterricht nicht funktioniert. Vielmehr bedarf Jazzunterricht technisch fortgeschrittener Schüler/-innen, insbesondere Improvisation als Kern des Jazzunterrichts bedarf viel theoretischem Vorwissen, aber auch Offenheit und Erfahrung, welche vor allem bei jüngeren Schülerinnen und Schülern noch nicht vorhanden sei.“
Der Jazzpädagoge Eric Sons meint dazu: „Wenn man Jazz als eine offene Haltung begreift, kann man/frau auch älteren Kindern der Primarstufe einen Zugang zur improvisierten Musik eröffnen. Es ist sinnvoll, mit Kindern kollektive Improvisationen auszuprobieren, denn diese sind ohne größeres theoretisches Vorwissen umsetzbar, da es bei Ihnen vor allem auf das Gefühl, das Aufeinander Hören und den subjektiven Ausdruck ankommt. Dabei hat es sich bewährt, sich gemeinsam mit ihnen Vorgaben wie einen Zentralklang, eine Farbe oder eine Geschichte auszudenken.“
Von solchen Erfahrungen können auch die Musiker des Subway Jazz Orchestra berichten, denn die meisten von ihnen geben ihr Wissen, ihre Offenheit und unbedingte Spielfreude an jüngere Musiker_innen weiter.
Darius Milhaud: „L’Évolution du jazz-band et la musique des n** d’Amérique du nord,“ Le Courier Musical 25 (1. Mai 1923), die Übersetzung „Die Entwicklung der Jazz-Band und die
Musik der N** Nord-Amerikas“, erschien in Der Querschnitt, 4. Jg. Heft 2/3, Sommer 1924 und als Wiederabdruck in Musikblätter des Anbruchs Monatsschrift für moderne Musik, Wien, April 1925
http://magazine.illustrierte-presse.de/die-zeitschriften/werkansicht/dlf/73145/72/
Bigband Register Deutschland:
http://bigbands.davidlohner.de
Jazzstudie 2016:
http://jazzstudie2016.de
(Beitragsbild: Darcy James Argue & Secret Society – moers festival 2009, Foto: Oliver Heisch)